Freitag, 24. Februar 2012

Im Rausch mit dem Duft Indiens

Wenn ich abends aus dem Unterricht komme, riecht es nach Urwald. Draußen vor dem Institut, wo ich als Deutschlehrerin arbeite, duftet es nach Regen oder Regenwald, denn rundherum ist alles mit großblättrigen Bäumen bewachsen. 

Den Wächtern teile ich mit, dass sie das Klassenzimmer nun abschließen können. Armugam wartet mit seiner Rikscha – Auto, wie es hier heißt – und macht sich wortlos auf den Weg. „House?“, hat er bis vor kurzem noch gefragt, aber langsam verstehen wir uns auch ohne Worte. Es ist nicht ganz klar, ob er irgendwas außer house auf Englisch versteht, wahrscheinlich noch right, left und straight. Jedenfalls kennt er den Weg. Als ich vor zwei Jahren in Chennai damit begann, Rikscha zu fahren, war ich der Meinung, dass eine ausgedruckte Karte aus Google Maps der Vermittlung des Fahrtziels dienen könnte, bis ich bemerkte, dass einige den Rikscha-Fahrer die Karte um 180 Grad drehten und mich dann ratlos ansahen. Eine Studentin verriet mir, dass viele Inder, selbst wenn sie studiert haben, mit Karten nicht viel anfangen könnten. In der Schule würde ihnen das jedenfalls nicht beigebracht.



Vor Fast-Katastrophen die Augen schließen

Entspannt – weil Armugam und ich uns ebenfalls wortlos auf einen Festpreis geeinigt haben und ich nicht mit Fremdfahrern handeln muss – setze ich mich auf die Rückbank, meine Taschen dennoch fest umklammert, denn immer noch bin ich der Meinung, dass diese bei dem rasanten Tempo vielleicht auf die Straße hüpfen könnten. Allerdings vertraue ich meinem Armugam ganz und gar und weiß, dass er sich mit ständigen Hupen seine Vorfahrt schwer erkämpfen muss, wie jeder Fahrer auf indischen Straßen. Auch habe ich mir abgewöhnt, ständig nach vorne zu schauen, wo sich Fast-Katastrophen abspielen, bei denen wir nur knapp den Vordermann verfehlen.

Holpernd wegen mangelnder Federung geht es die Nebenstraßen entlang, dann die TTK-Road, die  einen langen unaussprechbaren Namen und nebenbei noch zwei andere hat. Einer davon ein von der Regierung neu erstellt und auf einem großen blauen Schild angebracht. Niemand schert sich aber darum – auch deshalb haben Stadtpläne derzeit in Chennai keine Zukunft.  Wer es immer noch nicht weiß: Chennai hieß früher Madras und wurde von einer vorherigen Regierung umbenannt. Meinen Nachhauseweg zieren nun nicht mehr die 150 Riesenposter mit dem ehemaligen Regierungschef, sondern die tausenfünfhundert Megaposter mit der pauswangigen  Jayalaltiha, der neuen Nr. 1 in Tamil Nadum. Es ist ihr 64 Geburtstag und der Personenkult kennt kein Ende. Auch Bilder aus ihrer Zeit als Schauspielerin sind dabei und irgendwie hat sie sich ziemlich verändert, vor allem ihre Körpermaße.

Ein Operations-Theater für die Regierungschefin

Nachdem nun Jayala an die Regierung kam, hofften viele, dass sie der Stadt den alten Namen zurückgeben würde, was allerdings bisher nicht passierte. Dafür verweigerte sie den Einzug in das neue Regierungsgebäude – von der alten Regierung in Auftrag gegeben – und weder von der einen noch von der anderen bezahlt. Architektin des imposanten Gebäudes ist eine Deutsche – die riesige Kuppel in der Mitte erinnert an den deutschen Reichstag. Nun wird das Gebäude zum Krankenhaus zweckentfremdet. Spaßvögel meinen, die Kuppel solle zum „Operation Theater“ – wie man hierzulande sagt – für die Regierungschefin umgewandelt werden. Die entsprechenden Körpermaße habe sie ja dazu, behaupten die Zyniker.

Während die Regierungschefin auf allen Straßen Wohlleben demonstriert, lassen es sich auch die indischen Straßenbewohner gut gehen. Überall riecht es appetitlich nach Curries, gebratenem Reis und nach Samosas. Die Garküchen arbeiten auf Hochtouren. Straßenhändler verkaufen ihre letzen Bananen, Papayas und Zitronen. Der Geruch von Jasmin, Räucherstäbchen, Urwald,  Gewürzen und Abwasser vermengt sich zu einem Duftrausch, an dem ich mit geschlossen Augen Madras erkenne. Besonders intensiv nimmt man ihn wahr, wenn man das erste Mal am Flughafen ankommt und später jedes Mal, wenn man aus dem Ausland kommt. Nach und nach wird man aber eins mit dem Duftkonvolut und unsere Verwandtschaft in Deutschland stellte jüngst fest, dass wir schon irgendwie indisch nach Gewürzen riechen.

In der Festhalle, die wir auf dem Weg passieren, feiern Shanti und Deepak Hochzeit. So steht es jedenfalls in großen Lettern auf dem – ebenfalls – Riesenposter, auf dem man das glückliche Brautpaar in seiner ganzen Pracht abgebildet hat. Druckerzeugnisse sind in diesem Land unglaublich billig und so gibt es zu jedem Gedenktag ein Plakat, wo die entsprechenden Personen zu sehen sind. Tausende von kleinen Lichtern und Blumengestecken sowie Bananenblätter schmücken den Hallenhof. An der Tür ist ein Bildschirm angebracht, der das Geschehen aus dem Inneren life überträgt. Tief atme ich den Jasmin Duft ein und denke, das ist der Zauber Asiens. Ich weiß, dass wir gleich die Brücke über den städtischen Kanal überqueren werden, wo es nicht nur nach Abfluss und Urin stinkt. Dort befinden sich sowohl die Toilette wie auch der Schlafplatz vieler Tasmac-Kunden, die in dem regierungseigenen Alkoholshop ihren Lohn verjubeln. Es ist Freitagabend, 21.30 Uhr und Tasmac verzeichnet Rekordverkäufe. Die Bürgersteige sind allerdings noch nicht mit betrunkenen Schläfern übersäät, bei denen man nicht so genau weiß, ob sie noch leben.

Kühe sterben durch Plastiktüten

Bei Sangheeta, einer örtlichen Fastfood Kette, sitzen indische aber auch westlich aussehende Gäste auf der Straßenterrasse, ungeachtet der Autoabgase und des ohrenbetäubenden Lärms. Die kleinen Läden haben fast alle noch geöffnet, verkaufen Bilderrahmen, Handys, Kleidung und Lebensmittel. Ein winziger abgemagerter Hund tummelt sich todesmutig im Verkehr und überlebt das Tohuwabohu wie ein Wunder. Zwei Kühe nehmen ihr Abendbrot an einer überquellenden Mülltonne ein. Hoffentlich lassen sie dabei die Plastiktüten liegen, denn das würden sie vielleicht nicht überleben. Der Besuch beim Tierarzt können sich die Besitzer der Kühe häufig nicht leisten. Die Kühe dienen auch als „lebende Kühlschränke“, die die Versorgung mancher Familie mit Milch garantieren.

Nicht mehr weit, dann sehe ich schon „meinen“ heimischen Rikscha-Stand, wo „unsere Jungs“ – wie wir sie nennen – noch immer auf Kundschaft warten. Freundlich heben sie die Hand – auch hier meist nur Kommunikation ohne Worte. Von meinem Rikscha-Fahrer Armugam weiß ich, dass er sich wie die meisten älteren Männer die Haare färbt – sieht viel jünger aus, seit er nicht mehr so grau ist. Zum Glück hat er Schwarz und nicht Henna-Rot gewählt, wie man es hier manchmal sieht. Außerdem scheint er sieben Tage die Woche zu arbeiten. Erkundigungen nach Frau und Kindern hat er womöglich nicht verstanden, denn alles was er auf Fragen antwortet, ist ein freundliches mit dem Kopf Wiegen, was alles bedeuten kann.  
100 plus 30 Rupien, soviel erhält er als Abendtarif und Armugam ist verschwunden. Wow, das ist Indien. Ich habe diese Tour schon hundertmal gemacht und jedes Mal fasziniert mich das Leben da draußen auf der Straße in Chennai alias Madras.

Text und Fotos: Senya Müller